RHN 98/2023 | Call
Organisers: Junior Professorship for European Ethnology with focus on Intangible Cultural Heritage at the Otto-Friedrich-University Bamberg
20 - 22 March 2024, Bamberg, Germany
Deadline for submissions: 15 October 2023
Call for Papers:
Immaterielles Kulturerbe in ländlichen Räumen: Vereinnahmungen und Instrumentalisierungen
Seit der Verabschiedung des UNESCO-Übereinkommens 2003 wachsen die drei internationalen Listen zum Immateriellen Kulturerbe kontinuierlich weiter und umfassen mittlerweile über 670 Einträge aus 140 Ländern. Ein großer Teil davon bezieht sich auf eher in ländlichen Räumen praktizierte Traditionen, Feste und Bräuche, (Handwerks-)Techniken sowie in agrarischen Kontexten weitergegebenes Wissen um die Natur. Die Auszeichnung als immaterielles Kulturerbe kann dabei gerade in vor spezifischen demografischen, infrastrukturellen und soziokulturellen Herausforderungen stehenden peripheren Regionen zu lokalen Aufwertungen und Community-Building-Prozessen beitragen, birgt gleichzeitig aber auch Potenzial für Konflikte und Vereinnahmungen. Während durch Valorisierung und Weitergabe von immateriellem Kulturerbe einerseits Dimensionen ländlicher Diversität erhalten und gesellschaftlich sichtbar werden können, gehen und gingen damit andererseits historisch wie gegenwärtig Instrumentalisierungen und Ideologisierungen durch exkludierende Heimatbegriffe, retrotopische Kulturideale oder die Reaktivierung problematischen, überholten Fachwissens einher. Dies gilt insbesondere mit Blick auf aktuelle politische Spaltungen, im Zuge derer ländliche „Abgehängtseins“-Wahrnehmungen (Deppisch 2020) ein zunehmend rechtsgerichtetes Wahlverhalten mitbedingen.
Die Tagung möchte beleuchten, inwieweit gegenwärtige Formen von immateriellem Kulturerbe in ländlichen Räumen Europas, gerade auch im Zuge von Bewerbungs- und Aufnahmeverfahren in nationale und internationale Listen, von entsprechenden Entwicklungen tangiert werden. Das Untersuchungsspektrum reicht dabei von ökonomisch motivierten (Konkurrenz-) Konstellationen rund um Eintragungen bzw. Ablehnungen bestimmter Phänomene über populistische Vereinnahmungen ländlicher Traditionen als (H)Orte des Konservativ-Bewahrenden bis hin zu mittlerweile in zahlreichen europäischen Ländern und Regionen transportierten (rechts-)politischen Narrativen, die mithilfe eines essentialistischen Kulturverständnisses vermeintliche Gegenpole zu pluralen urbanen Lebenswelten entwerfen. Die Beschäftigung mit entsprechenden Vereinnahmungen des Ländlichen, seiner Akteur:innen und Traditionen sowie zu dekonstruierender Stadt-Land-Binaritäten stellten innerhalb und gerade wegen der europäisch-ethnologischen Fachgeschichte Schwerpunkte der disziplinären Forschung dar. Angesichts der Krisenhaftigkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts sind im Schnittfeld von Ländlichkeits- und Immaterielles-Kulturerbe-Forschung neue Herausforderungen zu verzeichnen, die entsprechend kritischer Perspektivierungen und vor allem eingehender Beleuchtung über empirische Beispiele bedürfen.
Mögliche Zugänge und Fragen umfassen:
- Inwieweit (re-)produziert die mediale und öffentliche Präsenz von immateriellem Kulturerbe bestimmte Vorstellungen von ländlichen Räumen, im Besonderen bezüglich idyllisch-traditioneller Ländlichkeit?
- Wo und auf welche Weise werden diese Imaginationen politisch, institutionell, touristisch oder auch in Bezug auf gender- und migrationsbezogene Aspekte etc. instrumentalisiert?
- Welche Folgen ergeben sich daraus für lokale Identitäten und Trägergruppen? Inwieweit sind hier bewusste Auseinandersetzungen vor Ort mit entsprechenden Tendenzen zu verzeichnen? Wo werden handlungsmächtige Akteur:innen sichtbar, die sich Vereinnahmungen entziehen bzw. diese zurückweisen, die alternative Policies und Narrative entwickeln?
- Inwieweit lässt sich eine kritische Reflektion im Kontext von Bewerbungs- und Aufnahmeverfahren für die UNESCO-Listen feststellen und wo werden entsprechende Prozesse gerade im Rahmen der Zertifizierung befördert?
- Inwiefern tragen Bewerbungs- und Aufnahmeverfahren für die UNESCO-Listen dazu bei, periphere ländliche Räume aus ihrer (vermeintlichen) Defizitperspektive zu holen und den Blick für lokalsensible kulturelle Bildungspraxen zu stärken?
Begrüßt werden insbesondere Empirie-basierte Beiträge aus dem fachlichen Kontext der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie/Empirischen Kulturwissenschaft sowie benachbarter Disziplinen mit qualitativ-methodischem Fokus. Die Durchführung der Tagung wird im zweisprachigen Format mit Beiträgen sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch stattfinden. Eine anschließende Veröffentlichung ausgewählter Vorträge ist im Rahmen eines peer review-Formates geplant.
Organisation durch die Juniorprofessur für Europäische Ethnologie mit dem Schwerpunkt Immaterielles Kulturerbe an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Abstracts (max. 300 Wörter) können bis 15. Oktober 2023 an Barbara Wittmann (barbara.wittmann@uni-bamberg.de) eingereicht werden.