Call for Articles: Zum Pflanzen gebracht: Vegetabile agency in Mensch-Pflanzen-Netzwerken

RHN 119/2023 | Call

Organiser: Silvie Lang, Christine Riess, Vanessa-Nadine Sternath (IAG Climate Thinking)

Deadline for submissions: 31 December 2023

 

Call for Articles for the Publication
Zum Pflanzen gebracht: Vegetabile agency in Mensch-Pflanzen-Netzwerken

 

Am Ende einer eigentlich ganz banalen gärtnerischen Tätigkeit, dem Pflanzen von Kartoffeln, stellt Michael Pollan sich eine auf den ersten Blick nicht selbstverständliche Frage:

„Folglich stellte sich mir an jenem Nachmittag die Frage: Habe ich frei entschieden, diese Kartoffeln zu pflanzen, oder hat mich die Kartoffel irgendwie dazu gebracht? Tatsächlich stimmen beide Aussagen.“ (1)

Dieser Blick auf das Verhältnis von Mensch und Pflanze und die darin enthaltene Behauptung, dass nicht von vorneherein ausgemacht sei, wer handelndes Subjekt und wer behandeltes Objekt ist, mag zunächst befremden. Doch die Frage von Michael Pollan ist keinesfalls so abwegig, wie es scheint, denn Pflanzen eignet durchaus das Potenzial zu agency, (2) also Handlungsmacht gegenüber menschlichen Akteur:innen, sofern wir unter Handlungsmacht nicht automatisch einen menschenähnlichen Subjektstatus verstehen. Eine diversifizierende Perspektive auf vegetabile Lebewesen bieten hierzu die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour und dessen zentrale Grundannahme: „[W]ir [haben] erkannt, daß andere Entitäten, über die wir keine Kontrolle haben, uns dazu bringen, Dinge zu tun.“ (3) In der Aufforderung, komplexe Netzwerke nachzuzeichnen, ermöglicht die ANT ein neues Verständnis von Handlungsmacht und den Akteur:innen.

Im Kontext der aktuellen Klimakatastrophe sind wir Akteur:innen in einem komplexen Netzwerk sehr unterschiedlicher menschlicher, tierlicher, pflanzlicher und anderer Akteur:innen mit divergierenden Interessen und der daraus sich ergebenden Konkurrenzen und Probleme. Unsere These ist, dass ein neuer Blick auf den Akteur:innenstatus in diesem komplexen Netzwerk alternative Perspektiven und neue Lösungsansätze ermöglicht. Bisher sind Pflanzen etwa in medizinischen und religiös-kultischen Kontexten zu finden und stehen in Wechselwirkung mit der Ernährung, Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen. Des Weiteren lassen sich vegetabile Interferenzen in Infrastruktur, Immobilien und Mobilien finden. Nicht zuletzt dienen sie als Basis für verschiedene Medien, etwa in Form von Papier oder von in Baumrinden verewigten Liebesbeweisen. Die Nutzung bis Ausbeutung vegetabiler Ressourcen durch den Menschen spielt somit eine entscheidende Rolle für das ökologische (Un-)Gleichgewicht. Der Mensch eignet sich die Natur für sein Überleben an und legitimiert dies u. a. über religiös und kulturell geprägte Weltanschauungen: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ (Luther: Gen. 1, 28, Herv. durch die Autorinnen)

Diese grundsätzliche Dichotomisierung von Kultur und Natur ist vor allem deshalb als problematisch anzusehen, weil sie sich in anthropogenen Hierarchien ausdrückt. Im Anthropozän wird durch Naturkatastrophen wie Waldbrände oder Überflutungen nicht nur vermehrt vegetabiles Leben zerstört, sondern auch eine Aporie in Hinblick auf die Klimakatastrophe geschaffen: Die anthropogene Erderwärmung lanciert die Anpassung anderer Lebensformen an jüngste klimatische Bedingungen, gleichzeitig aber bedeuten weniger Pflanzen den Rückgang von Biodiversität (Stichwort: Insektensterben) und die Begünstigung von Naturkatastrophen.

Vegetabile agency wird besonders in Situationen deutlich, in denen der Mensch Pflanzen in der Interaktion als Bedrohung empfindet: Pflanzen „stören” als „Unkraut” oder werden als Trockenholz für Feuer eingesetzt – die wiederum außer Kontrolle geraten. Der durch Artensterben ausgelöste Papiermangel behindert Buchproduktion und -vertrieb und bewirkt infolgedessen Engpässe und Preisanstiege. Die Avocado als begehrliches Superfood reizt aufgrund ihres Wertes zu gewalttätigen Überfällen – dass ihr Anbau viel Wasser benötigt und somit die Wasserressourcen maßgeblich strapaziert, ist mittlerweile common sense. Ein Paradoxon liegt vor, wenn uns Pflanzen wie Kaffee dazu bringen, sie aufgrund ihrer psychoaktiven Substanz Koffein anzubauen. Obwohl sie sich damit als evolutionär erfolgreich erweisen, binden sie sich gleichzeitig an ihre größte existenzielle Bedrohung an: den Menschen.

Vegetabile agency zeigt sich aber auch als Folge von pflanzlicher Vulnerabilität: „Unkraut” bringt den Menschen dazu, Herbizide einzusetzen. Sterbende oder bereits tote Pflanzen wiederum bringen den Menschen dazu, sie zu kompostieren und somit die Nahrungsbasis für andere Pflanzen zu schaffen. Das Fällen von Bäumen im Wald erwirkt in Märchen und Sage das Erscheinen des Hehmanns, der Holzdiebe bestraft; in Tolkiens The Lord of the Rings schlagen daraufhin gar die baumähnlichen riesenhaften Ents den Feind in die Flucht; in der realen Welt animiert etwa die Abholzung des Regenwaldes menschliche Akteur:innen zu Protestaktionen. Die Klimakatastrophe führt darüber hinaus dazu, dass Forschende Pflanzen untersuchen, die sich an Dürreperioden anpassen können; gewisse Arten vegetabiler Überlebensfähigkeit bringen den Menschen also dazu, manuell zu selektieren, um das Bestehen unserer Welt zu sichern. Unter dem Hashtag #allmaletreesaretrash wird das Phänomen des ‚botanischen Sexismus‘ erörtert: Weibliche Bäume werden aufgrund der Produktion von Fallobst in Städten nicht gepflanzt; die Prävalenz männlicher Bäume und deren Pollen führt zu einer Begünstigung allergischer Reaktionen und schlechterer Luftqualität.

Der Grad der Abhängigkeit in Mensch-Pflanzen-Beziehungen variiert, dennoch kann eine Neuperspektivierung helfen, diesem Verhältnis kritisch zu begegnen: Was ist vegetabile agency überhaupt und welche Formen davon sind zu beobachten? Wann, wo und wie wird vegetabile agency dargestellt? Woran wird sie erkennbar? Welche Antagonismen werden kreiert? Wie sind die Argumentationsmuster aufgebaut? Inwiefern stellt sich ein Moment des Umdenkens ein? Wie lässt sich mithilfe der latourschen Akteur-Netzwerk-Theorie, anhand derer wir Netzwerke nachzeichnen, in denen Menschen und Pflanzen einander begegnen, ein reziprokes Gleichgewicht zwischen den Akteur:innen herstellen? Wie stellt sich vegetabile agency im Schreiben, Sprechen und Nachdenken der Vormoderne und Moderne dar?

Potenzielle Beschäftigungsfelder für den Sammelband sind:

- Intermediale Darstellungsweisen von vegetabiler agency, bspw. in Filmen und Games
- Interdisziplinäre Darstellungsweisen von vegetabiler agency, bspw. Wechselbeziehungen von Literatur(-) und Naturwissenschaften
- Theoriebildung von vegetabiler agency in (literarischen) Texten
- Vegetabile agency im Anthropozän
- Ökokritische und ökofeministische Ansätze in Hinblick auf vegetabile agency
- Vegetabile agency in verschiedenen (nicht-eurozentrischen) Sprach- und Kulturräumen
- …

Der Sammelband strebt eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit vegetabiler agency in Vormoderne und Neuzeit an. Insbesondere Beiträge von Nachwuchswissenschaftler:innen sind willkommen. Potenzielle Beiträger:innen bitten wir, ein Abstract (max. 350 Wörter) mit einem Titelvorschlag und einer Kurzbiografie bis zum 31.12.2023 an die unten angegebenen E-Mail-Adressen zu schicken. Das Organisationsteam wird bis zum 01.02.2024 über die Auswahl der Beiträge informieren. Es werden Abstracts und Beiträge in deutscher und englischer Sprache angenommen.
Herausgeberinnen: Silvie Lang (silvie-lang@uni-kassel.de), Christine Riess (christine.riess@uni-kassel.de) und Vanessa-Nadine Sternath (vanessa.sternath@uni-kassel.de)
Der Sammelband entsteht im Rahmen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Climate Thinking der Universität Kassel (https://www.uni-kassel.de/fb02/forschung/climate-thinking).

Timeline
31.12.2023 – Abstract (max. 350 Wörter), Kurz-CV
01.02.2024 – Auswahl und Rückmeldung zur Annahme
01.05.2024 – Einreichen des Artikels (48.000-58.000 Zeichen inkl. Leerzeichen)
01.07.2024 – Rückmeldung nach Peer-Review mit Überarbeitungshinweisen
01.08.2024 – Einreichen der überarbeiteten Fassung
01.11.2024 – Druckfahne
Frühjahr 2025 – Publikation

 

Literaturverzeichnis
Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe / Evi Zemanek (Hg.): Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres [= Transpositiones 2 (2)]. V & R unipress / Brill: Göttingen 2023.
Moises Exposito-Alonso, François Vasseur, Wei Ding [u. a.]: Genomic basis and evolutionary potential for extreme drought adaptation in Arabidopsis thaliana. In: Nature Ecology & Evolution 2 / 2018, S. 352-358 (https://doi.org/10.1038/s41559-017-0423-0).
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007.
Randy Laist (Hg.): Plants and Literature. Essays in Critical Plant Studies (Plants and Literature). Amsterdam / New York: Rodopi 2013.
Viktoria Morasch: Botanischer Sexismus. #allmaletreesaretrash. In: taz online vom 27.6.2020 (https://taz.de/Botanischer-Sexismus/!5692824/, letzter Aufruf: 20.9.2023).
Kathrin Meyer / Judith Elisabeth Weiss (Hg.): Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten. Göttingen: Wallstein Verlag 2019.
Michael Pollan: Die Botanik der Begierde. Vier Pflanzen betrachten die Welt. München: Claassen 2002.
Urte Stobbe / Anke Kramer / Berbeli Wanning (Hg.): Literaturen und Kulturen des Vegetabilen. Plant Studies – Kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung (Studies in Literature, Culture and the Environment 10). Berlin: Peter Lang 2022.
Urte Stobbe: Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4 (1) / 2019, S. 91-106.

(1) Michael Pollan: Die Botanik der Begierde. Vier Pflanzen betrachten die Welt. München: Claassen 2002, S. 11.
(2) Als aktuelle Beispiele für multispecies agencies bieten sich die nicht nur Pflanzen, sondern auch andere Entitäten betrachtenden Analysen in Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe / Evi Zemanek (Hg.): Netzwerke des Lebendigen: Multispecies agencies und Formexperimente in hybriden Genres [= Transpositiones 2 (2)]. V & R unipress / Brill: Göttingen 2023 an.
(3) Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007, S. 88.
(4) Moises Exposito-Alonso, François Vasseur, Wei Ding [u. a.]: Genomic basis and evolutionary potential for extreme drought adaptation in Arabidopsis thaliana. In: Nature Ecology & Evolution 2 / 2018, S. 352-358 (https://doi.org/10.1038/s41559-017-0423-0).
(5) Viktoria Morasch: Botanischer Sexismus. #allmaletreesaretrash. In: taz online vom 27.6.2020 (https://taz.de/Botanischer-Sexismus/!5692824/, letzter Aufruf: 20.9.2023).

Kontakt

silvie-lang@uni-kassel.de
christine.riess@uni-kassel.de
vanessa.sternath@uni-kassel.de

 

Source: https://www.hsozkult.de